Kinderarmut beenden – gesellschaftliche und soziale Teilhabe von Kindern und jungen Menschen gewährleisten Antrag der Fraktionen von SSW und SPD-Drucksache 20/781(neu) sowie
Kinderarmut wirksam bekämpfen
Alternativantrag der Fraktionen von CDU und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Drucksache 20/875
Sehr geehrte Frau Vorsitzende,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
gerne nehmen die Wohlfahrtsverbände die Möglichkeit wahr, zu den benannten Drucksachen ein knappes Jahr nach der schriftlichen Anhörung, noch einmal in den persönlichen, mündlichen Austausch zu gehen.
Seit der schriftlichen Anhörung ist die in den Anträgen geforderte Kinderarmutskonferenz ist durchgeführt worden.
Die Wohlfahrtsverbände hatten in ihrer schriftlichen Positionierung die Durchführung dieses Kinderarmutskonferenz begrüßt, nicht weil von dieser neue Erkenntnisse zu erwarten waren, sondern weil sie sie als Zeichen verstanden wissen wollten, dass Schleswig-Holstein sich mit ganzer politischer Kraft aufmachen wird, um Kinderarmut gezielt zu bekämpfen.
Die Ergebnisse der Konferenz in Neumünster geben aus unserer Perspektive keinen Anlass zu der Annahme, dass diese politische Kraftentfaltung zu erwarten ist. Wir führen gerne aus, warum wir diese Einschätzung haben, stellen aber fest, dass der Punkt „Kinderarmutskonferenz“ aus den Anträgen der Diskontinuität hinsichtlich der Antragsberatung zum Opfer gefallen und damit „erledigt“ ist.
Welche Ergebnisse hat uns diese Konferenz offengelegt?
Die wissenschaftlich breit untersuchten und bekannten Gründe von Kinderarmut und ihre Vererbbarkeit wurden dargelegt; notwendigen Maßnahmen umrissen und eine Foto-Session mit der Ministerin umgesetzt.
Politisch soll nun die Konzentration u.a. auf „Kommunale Präventionsketten“ gelegt werden. Ein Instrument, dass es in der Theorie hier wie in anderen Bundesländern schon lange gibt und das bereits in den 2000er Jahren auch in Schleswig-Holstein in den Kreisen und kreisfreien Städten diskutiert wurde. Leider gab es keine entsprechende Finanzierung und gemeinsame Anstrengung um kommunale Präventionsketten, die im Kern gut gedacht und angemessen für die Aufgaben sind, umzusetzen und nachhaltig zu implementieren
.
Die Landesregierung hat in den Landeshaushalts 2024 im Titel
633 39 291 Modellvorhaben Kommunale Präventionsketten 100,0 TEURO (MG 04) eingeplant. Über eine Verpflichtungsermächtigung sollen bis 2027 insgesamt 500.0 TEURO in zwei Projekte an zwei Standorte fließen. Ausdrücklich wird festgehalten, dass hier neben Personal- und Sachkosten für die Koordination auch direkte Angebote (mit)finanziert werden sollen, um die Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen zu fördern und die Folgen von materieller Einkommensarmut abzufedern“.
Die Wohlfahrtsverbände konnten darüber hinaus keine ausfinanzierte Maßnahme finden, die ein Mehr in den Kampf gegen Kinderarmut darstellt. Es werden für die nächsten Jahre zwei Modellprojekte initiiert, deren Konkretisierung die Landesregierung bisher schuldig geblieben ist. Das bedeutet, dass in den nächsten zwei Jahren darüber hinaus in das hoffnungstragende Instrument der kommunalen Investitionsketten nicht investiert, dass es hier keine Entwicklung geben wird, solange diese zwei Modellvorhaben nicht ausgewertet und evaluiert sind.
Wir rufen in diesem Kontext in Erinnerung: In Schleswig-Holstein ist aktuell jedes 5. Kind arm oder von Armut bedroht, jedes 6. Kind lebt von staatlichen Transferleistungen.
Allein dieses Verhältnis zeigt, dass es mehr braucht als diese kleine Initiative.
Armut und besonders auch der Kinderarmut entschieden zu begegnen und entgegenzuwirken, ist eines der Kernthemen Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession. Die Verbände der freien Wohlfahrt stehen für eine ganzheitliche Sicht auf Armut und machen beständig Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit auf die gravierenden, gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen aufmerksam.
Es besteht mithin kein Erkenntnis-, sondern immer noch ein Handlungsdefizit.
Wir erneuern an dieser Stelle unsere Forderungen aus dem letzten Jahr: und stellen voran:
Kinderarmut verhindert gesellschaftliche Teilhabe in jedem Lebensbereich nachhaltig und verletzt viele der in der UN-Kinderrechtskonvention ausgewiesenen Kinderrechte. Armut manifestiert (Chancen-)Ungleichheiten, schafft Barrieren und verhindert Zugänge zu Bildung, Sport, kulturellen oder Freizeitangeboten. Sie wirkt darüber hinaus auch in andere, existenziell wichtige Bereiche wie einer gesunden Lebensführung oder auch Wohnen, etwa wenn einkommensarme Familien in zu kleinen Wohnungen leben, in Lagen, die von höherer Lärmbelästigung und Schadstoffbelastung betroffen sind und Quartieren, die zu Segregation und Stigmatisierung einzelner sozialer Schichten beitragen. Armut hat multikausale Ursachen, schließt aus, macht krank und schadet der gesamten Gesellschaft. Kinder haben keine Möglichkeit an ihrer familiären Lebenssituation aktiv etwas zu verändern. Dies wirkt sich insbesondere auf ihren Bildungsweg und die spätere Berufswahl aus, was angesichts des in allen Branchen herrschenden Fachkräftebedarfs von erheblicher gesellschaftlicher Relevanz ist. Familienunterstützende Leistungen wie beispielsweise Bildungs- und Teilhabegutscheine werden aufgrund von bürokratischen Hürden oder Unkenntnis durch nicht zielgruppengerechte Information der Berechtigten nicht in Anspruch genommen. Darüber hinaus sind die Bildungs- und Teilhabepakete nicht bedarfsgerecht finanziell ausgestattet. Das Bildungs- und Teilhabepaket gehört in seiner Form abgeschafft. Stattdessen sollen alle Kinder und Jugendliche kostenfreien oder kostengünstigen Zugang zu Sport -,– und Musikvereinen sowie kulturellen Institutionen erhalten. Darüber sind die Leistungen für z.B. Nachhilfe oder Musikunterricht direkt an die Eltern auszuzahlen. Sämtliche Hilfesysteme sind zu entbürokratisieren und so auszugestalten, dass sie die Lebensrealität der anspruchsberechtigten Familien berücksichtigen, damit die Leistungen unproblematisch bei den Kindern ankommen. Dazu gehört auch die Bündelung der
Leistungen sowie passgenaue Information und Beratung von Leistungsberechtigten.
Digitale Teilhabe gehört zur Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen hinzu. Dafür muss auch der Zugang zu den digitalen Endgeräten ermöglicht werden.
Das Thema Fachkräftemangel in der Sozialen Arbeit muss aus unserer Sicht interdisziplinär und zielgruppenübergreifend gedacht werden, hier bedarf es vieler Ansätze und Maßnahmen mit unterschiedlichen Schwerpunkten, um eine hohe Wirksamkeit zu ermöglichen.
Wir hätten begrüßt, wenn die von den Verbänden seit Langem beworbene Idee der multidisziplinären Präventionsketten aufgegriffen und weiterentwickelt und landesweit ausgewogen implementiert werden würde und diese Entwicklung dem Grundsatz folgen Doppelstrukturen zu vermeiden und existierende Strukturen auszubauen und zu verstärken. Diese Idee scheint aber unter den gegebenen Haushaltsbeschlüssen nicht mehr realistisch.
Wohnraummangel, insbesondere im Segment der örtlichen Mietobergrenzen bzw. des sozialen Wohnungsbaus, ist ein strukturelles Problem. Gerade einkommensarme Familien leben oft in zu kleinen, Einzelpersonen dagegen in zu großen Haushalten, insbesondere in Mittel- und Ballungszentren, aber auch im ländlichen Raum fehlt es an bezahlbaren Wohnraum. Neu entstehende Quartiere müssen generell inklusiv und unter Einbeziehung der sozialen Dimension gestaltet werden. Hier bedarf es einer gemeinsamen Vorgehensweise von allen Akteuren aus Politik, Verwaltung, Wohnungswirtschaft unter Einbeziehung der freien Wohlfahrtsverbände. Das Netzwerk Bauen und Wohnen muss in diesem Sinne weiter fortgeführt werden. Ebenso wichtig ist eine gemeinwohlorientierte Boden- und Nutzungspolitik in Schleswig-Holstein.
Da Kinderarmut auch in der Regel Mütterarmut ist, muss auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf insbesondere von Ein-Eltern-Familien möglich gemacht werden. Dazu braucht es auf kommunaler Ebene eine bessere Infrastruktur in der Ganztagsbetreuung und der Betreuung unter Dreijähriger.
Wir begrüßen und unterstützen die im vorliegenden Antrag ausgeführten Anregungen und Vorhaben und mahnen deren Umsetzung an.
Gleichzeitig sehen wir die Einbindung der freien Wohlfahrtsverbände bei der Entwicklung von sämtlichen Maßnahmen und Umgestaltungen von Hilfesystemen als unverzichtbar an, da die ihnen angeschlossenen Träger und Einrichtungen über eine einzigartige Expertise verfügen und nur so die soziale Dimension der Armut ganzheitlich erfasst und berücksichtigt werden kann.
- Kita
Kitas spielen eine sehr relevante Rolle im Kontext von Kinderarmut., um Kindern aus einkommensarmen Familien gerechte Bildungschancen zu bieten und soziale Ungleichheiten abzubauen. Sie können einen sicheren Raum schaffen, in dem Kinder ihre Fähigkeiten und Talente entwickeln können, unabhängig von ihrer finanziellen Situation. Dafür ist es relevant, dass langfristig die Bildung von Anfang an für die Personensorgeberechtigten kostenfrei ist. Es ist entscheidend, dass Kitas ausreichende Ressourcen haben, um auf die Bedürfnisse einkommensarmer Familien einzugehen. Dies kann zusätzliche finanzielle Unterstützung bedeuten, um qualitativ hochwertige Bildungsprogramme, Mahlzeiten oder andere Dienstleistungen anzubieten. Es ist auch wichtig, dass Kitas eng mit den entsprechenden sozialen Diensten und Organisationen zusammenarbeiten, um Familien in schwierigen Situationen ganzheitlich zu unterstützen.
Um Kinderarmut langfristig zu bekämpfen, sollten politische Maßnahmen ergriffen werden, um einkommensschwache Familien zu unterstützen und den Zugang zu hochwertiger frühkindlicher Bildung zu verbessern. Dies könnte die Bereitstellung von staatlichen Subventionen, die Schaffung von mehr Kita-Plätzen oder die Einführung von bedarfsgerechten Betreuungsangeboten umfassen. Um die Familien zu erreichen und zur Vermittlung von Hilfe zur Selbsthilfe sowie der möglichen Unterstützungssysteme hat sich die aufsuchende Soziale Arbeit, die an Kitas oder/und Familienzentren angedockt sein können, bewährt. Daher sind Maßnahmen zur Stärkung und zum Ausbau dieser Strukturen wirkungsvoll und förderungswürdig.
- Jugendhilfe
Es ist wichtig, dass familienunterstützende Dienstleistungen wie Familienhilfe, Erziehungsberatung, Haushaltshilfe (in kinderreichen Familien oder Menschen mit Behinderung) ausgebaut und intensiviert werden. Es kommt häufig vor, dass Familien lange auf einen Termin warten müssen, bis sie einen Termin in einer Erziehungsberatungsstelle bekommen und die Abstände zwischen Beratungen oft zu lang sind.
Mit der Einführung des Rechtsanspruchs auf den Ganztag, muss die kostenlose Nutzung der Ganztagsangebote sichergestellt werden.
Kinder, die in Armut leben, sind davon bedroht, gesundheitlich und medizinisch unterversorgt zu sein. Das ist in den Hilfen zur Erziehung oft als Symptom zu beobachten.
- Perspektivschulen
Der Zugang zu Unterstützung im schulischen Kontext wie Nachhilfe o.ä. ist meistens mit zusätzlichen finanziellen Belastungen und Bürokratie verbunden. Dies kann zu weiteren Bildungsungleichheiten führen.
Perspektivschulen spielen bei den derzeitigen Schulstrukturen eine wichtige Rolle bei Chancengleichheit im Bildungssystem. Sie sind speziell auf die Bedürfnisse und Herausforderungen benachteiligter Schülerinnen und Schüler ausgerichtet – erreichen jedoch nur einen kleinen Anteil an Kindern und Jugendlichen. Prospektiv sollten Schulen so ausgestattet sein, dass Jugendhilfe und Schule noch enger verzahnt zusammenarbeiten und Ressourcen für Schulsozialarbeit, Assistent*innen in Klassen, Digitalisierung etc. zur Verfügung stehen. Bei den angedachten Perspektiv-Kitas ist zu beachten, dass keine Parallelstrukturen aufgebaut, sondern die vorhandenen gestärkt und weiterentwickelt werden.
- Entbürokratisierung der sämtlichen Hilfesysteme
Wir erkennen, dass Familien durch bürokratische Hürden bei der Beantragung von Hilfen viele Schwierigkeiten haben. Oft sind die Anträge sehr kompliziert, so dass Familien Schwierigkeiten haben, sie auszufüllen und die benötigte Unterstützung zu beantragen. Darüber hinaus können Personalmangel in den Ämtern zu langen Wartezeiten bei der Bewilligung von Hilfen führen.
Diese Herausforderungen sollten angegangen werden, um sicher zu stellen, dass Familien leichter Zugang zu den ihnen zustehenden Hilfen erhalten. Dies könnte beispielsweise durch Vereinfachung der Antragsverfahren, Aufklärung der Familien oder eine Aufstockung des Personals in den Ämtern erreicht werden. Casemanagement in der Sozialen Arbeit ist hierbei eine wirkungsvolle Methode, um die Vermittlung und Zugänge zu erleichtern.
Folgende Maßnahmen wie diese bekämpfen nicht die Ursache der Kinderarmut. Wir begreifen sie als Interimsmaßnahmen, die unverzichtbar ist, um die Situation der Kinder und Jugendlichen schnell zu verbessern.
- Weitere Ideen, um die Kosten für Familien zu entlasten sind warme Mahlzeiten für Kinder und Jugendliche (bspw. in den Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit).
- Eine kostenlose Nachhilfe über bestehende Nachhilfeinstitute oder implementiert in die Offenen Ganztagsangebote.
- Die Kostenübernahme der Ferienfreizeiten und Klassenfahrten für alle Kinder und Jugendlichen.
- Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben kann mit der Einführung einer landesweiten, stigmatisierungsfreien Kultur-Card mit Partner wie Kinos, Schwimmhallen etc. zur kostenlosen Nutzung für Kinder- und Jugendliche ermöglicht werden.
- Ein kostenloses Deutschland-Ticket für alle Kinder und Jugendlichen in Schleswig- Holstein würde Ihre Mobilität erhöhen und zur Kostenentlastung bei den Familien führen
Zusammenfassend stellen wir fest, dass es viele gute und mit den Wohlfahrtsverbänden übereinstimmende Forderungen und Positionen im Kampf gegen Kinderarmut im Schleswig-Holsteinischen Landtag gibt. Wir regen eindringlich an, diese nicht nur regelmäßig zu listen, sondern unverzüglich mit der Umsetzung zu beginnen. Die Maßnahmen müssen ausfinanziert, regional ausgewogen sein und regelmäßig evaluiert werden. Die Berichte sind zu veröffentlichen.
Ein wichtiger Schritt und ein erkennbares politisches Zeichen wäre, wenn alle Fraktionen im Landtag sich zu einem geeinten Aktionsplan bewegen ließen, anstatt sich dabei zu überbieten, möglichst viel Identisches zum Thema Kinderarmut aufzuschreiben.
Begrüßenswert wäre dies auch, weil so die Ernsthaftigkeit des politischen Handelns und Forderns in Einklang mit den immer wieder geäußerten Beteuerungen gestellt werden könnten, dass der Kampf gegen Kinderarmut kein Thema für eine parteipolitische Auseinandersetzung ist, in der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung höchste Priorität besitzt.
Der Kampf gegen Kinderarmut ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und der Schleswig-Holsteinische Landtag würde ein gutes Zeichen setzen, wenn er diese gemeinsame Verantwortung untermauern und nicht durch Alternativanträge zersplittern würde. Neben der Vereinbarung konkreten politischen Handelns gehört dazu gehört dazu ein geeintes Bekenntnis zu konkreten Maßnahmen und die Bereitschaft, deren Umsetzung regelmäßig in einem vereinbarten Rhythmus zu bewerten und diskutieren zu lassen.
Vor diesem Hintergrund regen wir an, alle zur Verfügung stehenden Mittel über alle Ministerien zu bündeln, um einen echten und belastbaren Aktionsplan gegen Kinderarmut zu finanzieren, und diesen als wichtigstes sozialpolitisches Thema der Gegenwart und Zukunft beim Ministerpräsidenten anzusiedeln. Erheben Sie den Kampf gegen Kinderarmut zur Chefsache, weil Kinder, die heute arm sind, keine Zeit haben, auf Lösungen in der Zukunft zu warten. Arme Kinder von heute sind die abgehängten Jugendlichen von Morgen und die Erwachsenen, die auf Transferleistungen des Staates Übermorgen angewiesen sind.
Neuesten Studien zufolge ist das Zutrauen der jungen Menschen in die Zukunft geschwächt, was Radikalisierung fördert. Schleswig-Holstein sollte die Chance ergreifen, hier eine Trendwende einzuleiten und zu begleiten.
Die Wohlfahrtsverbände stehen dafür unterstützend und beratend bereit.
Mit freundlichem Gruß
Anette Langner Michael Saitner
Vorsitzender LAG Koordinator FA KJFF